"der narzißtisch Orientierte erlebt nur das als real, was in seinem eigenen Inneren existiert, während die Erscheinung in er Außenwelt für ihn an sich keine Realität besitzen, sondern nur daraufhin erfahren werden, ob sie für ihn selbst von Nutzen oder gefährlich sind. Das Gegenteil von Narzißmus ist Objektivität; damit ist die Fähigkeit gemeint, Menschen und Dinge so zu sehen, wie sie sind, also objektiv, und in der Lage zu sein, dieses objektive Bild von einem Bild zu trennen, das durch die eigenen Wünsche und Ängste zustande kommt. Sämtliche Formen von Psychosen weisen die Unfähigkeit zu Objektivität in einem extremen Maß auf. Für den Geisteskranken gibt es nur eine Realität, die in seinem eigenen Inneren existiert, die seiner Ängste und Wünsche. Er sieht die Außenwelt als Symbol seiner eigenen Innenwelt, als seine Schöpfung.(...) So ruft z.B. eine Frau den Arzt an und sagt, sie wolle am Nachmittag zu ihm in die Sprechstunde kommen. Der Arzt erwidert, er habe an diesem Tag keine Zeit für sie, aber sie könne gerne am nächsten Tag zu ihm kommen. Sie sagt darauf: "Aber Herr Doktor, ich wohne doch nur fünf Minuten von Ihrer Praxis entfernt!" Sie begreift nicht, daß es für ihn ja keine Zeitersparnis bedeutet, wenn sie nur einen so kurzen Weg hat. Sie erlebt die Situation auf narzißtische Weise: weil sie Zeit spart, spart auch er Zeit; die einzige Realität, die es für sie gibt, ist sie selbst.
Weniger extrem - oder vielleicht auch nur weniger offensichtlich - sind die Entstellungen, die in den zwischenmenschlichen Beziehungen an der Tagesordnung sind. Wie viele Eltern erleben die Reaktion ihres Kindes nur unter dem Gesichtspunkt, ob es ihnen gehorcht, ob es ihnen Freude macht, ob es ihnen zu Ehre gereicht usw., anstatt zu merken oder sich auch nur dafür zu interessieren, wie dem Kind selbst dabei zumute ist."
Erich Fromm "Die Kunst des Liebens"
Thursday, March 5, 2009
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